• Beitrag veröffentlicht:August 23, 2020
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Dass eine Diagnose ein Segen sein kann, mag vielleicht erst einmal irritieren.
Aber wenn die Antwort auf eine Fragestellung das beklemmende Gefühl des nicht einordnen Könnens des eigenen Befindens, der Überwältigung daraus hinter sich lässt, wenn ich eine Antwort auf die Frage bekomme, was mit mir los ist, dann ist es vielleicht ein Segen, zumindest aber etwas, was meinen Zustand beschreiben kann. Klassifikationssysteme, wie DSM oder ICD geben dem Gefühl meiner tiefen Traurigkeit, dem Verlust meiner Bezugspunkte im Leben, meiner aggressiven Verzweiflung, meiner Wahrnehmung, meinem Erleben, meinem Handeln einen Rahmen, der dazu dienen kann, adäquate Hilfe in Anspruch zu nehmen. Doch Diagnosen bewirken auch etwas anderes. Unzählige Film- und Romancharaktere neigen zu psychischer Krankheit. Insbesondere Krimis und Thriller bedienen die Täter gern aus der Breite psychiatrischer Diagnosen und tragen damit nachhaltig zu einer Verzerrung der Realität bei. Psychischen Krankheiten scheint etwas anzuhaften, was den „normalen Menschen“ sowohl anzieht als auch abstößt. Wird das Fenster in die Öffentlichkeit nur einseitig geöffnet, dann kommt es zu Ausgrenzung und Stigmatisierung. Was bleibt ist ein ebenso halbseitiges Bild, von unheilbar kranken Menschen, denen man mit Abstand, Mitleid oder Ablehnung begegnet.

Hagen Eisenhardt

Ein großer Dank an alle Teilnehmer für die sehr rege Diskussion, in der zunächst einmal Einigkeit darüber herrschte, dass es ohne Diagnose keine Hilfe gibt.

Die Art der Hilfe und Therapie ist jedoch auch abhängig von der gestellten Diagnose. Und hier haben die Teilnehmer sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Eine junge Frau hatte z.B. eine Erstdiagnose, bei der es bis heute geblieben ist und sie kommt damit gut zurecht. Bei einem jungen Mann wurde zunächst Schizophrenie festgestellt. Er konnte sich mit seinen Problemen da nicht wiederfinden, hat das Arztgespräch gesucht und nach wenigen Wochen eine neue, nun stimmige Diagnose erhalten. Eine Frau berichtet, dass sie von verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen ständig wechselnde, sehr unterschiedliche Diagnosen erhalten hat und dass Ärzte in ihrem Beisein über sog. falsche Diagnosen der Arzt-Kollegen herzogen. Ein junger Mann brachte den Begriff der Vorab-Diagnose ins Spiel, was bei der Problematik der psychiatrischen Diagnosestellung sicher ein sinnvolles Instrument ist. Denn schließlich haben ja viele psychische Krankheiten so einige gemeinsame Symptome. Ein weiterer Teilnehmer fand es gut, dass man sich nach gestellter Diagnose im Internet damit auseinandersetzen und somit viel über sich selbst lernen kann. Worauf eine Wortmeldung darauf hinwies, dass das aber auch gefährlich ist, da man seinen Durst ja auch nicht am Hydranten löscht. Das Angebot im Internet kann schnell überfordern. Im Gesamttenor wird die Diagnose oft zu schnell gestellt.

Ein junger Mann meinte, es wäre gut, wenn man einen Arzt seines Vertrauens gefunden hat, man möglichst bei diesem bleiben sollte. Wenn man sich dann mit seinem Leiden in der Diagnose nicht wiederfinden kann, ist es einfacher, ein entsprechendes Gespräch zu führen. Eine Frau meinte dazu, dass dies selten möglich ist, denn z.B. durch Kliniken und Rehamaßnahmen kommt man automatisch mit anderen Ärzten in Kontakt und erhält in vielen Fällen eine abweichende Diagnose. Schwierig war das für sie, als sie sich mit einer Diagnose sehr gut identifizieren konnte, dann ein Klinikarzt eine stark abweichende Diagnose stellte und kompromisslos auf seinem Standpunkt beharrte.

Angesprochen wurde auch das Thema Stigmatisierung als Fluch der psychiatrischen Diagnose. Eine Frau berichtet von zugenommener sozialer Distanz ihr gegenüber. Dies führt sie nicht auf ihr eigenes Verhalten zurück, sondern sieht dahinter gesellschaftliche Vorurteile und falsche Vorstellungen gegenüber psychisch Kranken. Mehrere Teilnehmer sehen zum Thema Stigma aber im Vergleich zu früher eine Besserung und mehr Akzeptanz. Hingewiesen wurde auch auf die derzeit lobenswerte Darstellung psychisch Kranker in Filmen und Serien, die dort genauso ihren „Mann“ stehen, wie andere Arbeitnehmer auch.

Ein interessanter Beitrag einer Frau war das Auftauchen vieler Diagnosen auf Überweisungen. Hier findet man häufig mehrere Diagnoseschlüssel, u.a. eben auch die einer psychiatrischen Erkrankung, selbst dann, wenn es sich um ein gebrochenes Bein handelt. Das empfinde sie nicht nur als unangenehm, sondern drängt bei ihren Ärzten darauf, dass hier nur der für die Behandlung relevante Befund angegeben wird. Sie sagt auch: Keiner will eine Diagnose sein, sondern ist zuerst einmal Mensch. In diesen Kontext passt auch der Beitrag einer Frau, die nicht möchte, dass eine einmal gestellte Diagnose lebenslang erhalten bleibt. Es gäbe Phasen, bei denen es gar keine Symptome gibt.

Zum Abschluss der Veranstaltung haben wir noch viele neue Themen für weitere interessante Trialoge gesammelt.

Fazit:
Wer wegen Beschwerden zum Arzt geht, will wissen, was er hat. Als erster Schritt zur Heilung gilt die richtige ärztliche Diagnose. Sie ist die entscheidende Voraussetzung für eine adäquate Therapie. Mal gelingt das sehr gut, aber es gibt noch Verbesserungsbedarf. Besonders, wenn ein Patient mit seiner Diagnose nicht zurechtkommt, wird von den Ärzten mehr Verständnis und Aufklärung und ggf. auch die Änderung der Diagnose erwartet. Auch sollte eine einmal gestellte Diagnose kein Etikett sein, dass man lebenslang mit sich herumschleppt. Der Segen der Diagnose ist in Hilfe und Unterstützung zu finden, der Fluch in der teils immer noch vorhandenen Stigmatisierung.

Sylvana Dautz